Unsere Tochter aus Afrika
Unsere Tochter aus Afrika
<http://www.zeit.de/2008/11/index> DIE ZEIT, Ausgabe 11, 2008
Von Wolfgang Lechner | © DIE ZEIT, 06.03.2008 Nr. 11
* Schlagworte:
* Adoption
<http://www.zeit.de/themen/Gesellschaft/Familie_und_Partnerschaft/famili
e/adoption/index>
* Familie
<http://www.zeit.de/themen/Gesellschaft/Familie_und_Partnerschaft/famili
e/index>
* Familie
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und Partnerschaft
* Gesellschaft <http://www.zeit.de/themen/Gesellschaft/index>
Auslandsadoptionen sind nervenaufreibend und kostspielig. Doch für viele
Kinderlose sind sie die letzte Hoffnung. Wie zwei Paare aus Deutschland
nach Kenia fuhren, um als Familien zurückzukehren
Familienglück: Erst nach acht Monaten durften Kathrin und Stefan
Huntemann die kleine Joyce mit nach Hause nehmen
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Familienglück: Erst nach acht Monaten durften Kathrin und Stefan
Huntemann die kleine Joyce mit nach Hause nehmen
Foto: Michael Jungblut für DIE ZEIT
Am 18. Oktober 2005, einem Dienstag zu Beginn der Regenzeit, erschien
eine junge Afrikanerin im Bezirkskrankenhaus von Kiambu, am Stadtrand
von Nairobi. Sie war hochschwanger. Die Wehen hatten schon eingesetzt.
Sie nannte einen Namen, der, wie sich später herausstellen sollte, nicht
ihr richtiger war, und bezahlte die Behandlungsgebühr von 1700 Shilling,
rund 17 Euro. Wenige Stunden später gebar sie ein gesundes Kind. Ein
Mädchen, 3300 Gramm schwer. Es solle den Namen Charity Nyakio tragen,
sagte sie.
»Charity«, ein englisches Wort, heißt »Wohltätigkeit«. »Nyakio« kommt
aus der Sprache der Kikuyu, der größten Volksgruppe in Kenia, und
bedeutet »die Arbeitsame«.
Am nächsten Tag war die Frau aus dem Krankenhaus verschwunden. Ohne ihre
Tochter. Die blieb noch einen Monat im Krankenhaus, dann brachte man sie
in ein Kinderheim.
Wenn alles gut geht, wird das Mädchen in ein paar Wochen Joana Charity
Njambi Wenger heißen und in einem großen, neuen Haus in Eppelsheim bei
Worms leben. Im Sommer 2009 schließlich wird das Statistische Bundesamt
neue Zahlen veröffentlichen. Und die fast dreistellige Zahl in der Zeile
»Afrika zusammen, darunter zum Zweck der Adoption ins Inland geholt«
wird um eine höher sein.
Wenn alles gut geht. Denn noch wohnt Sandra Wenger mit dem kleinen
schwarzen Mädchen, das sie adoptieren will, in einem eher
heruntergekommenen Apartment in Nairobi-Westlands und wartet auf den
nächsten Gerichtstermin. Vorletzte Woche wurde das Adoptionsverfahren
formell eröffnet, zweimal noch wird sie vor dem High Court von Nairobi
erscheinen müssen.
Ob aber alles gut geht, das hängt von vielen Faktoren ab: von einem
Bericht des zuständigen kenianischen Jugendamts; von vielen, vielen
Papieren und Dokumenten, die in Ordnung sein müssen; von der Stimmung
des Richters; davon, ob der nächste Termin noch vor den Gerichtsferien
angesetzt wird, die von Mitte März bis Mitte April dauern. Vor allem
aber davon, wie sich die Situation in Kenia weiter entwickeln wird.
Als Sandra Wenger im Mai 2006 ankam, war Kenia ein afrikanisches
Musterland, stabil und vergleichsweise sicher. Seit den Wahlen vor zehn
Wochen sind mehr als tausend Kenianer bei bürgerkriegsähnlichen Unruhen
gestorben, noch immer sind Zehntausende Menschen auf der Flucht.
Sandra Wenger hat mit den ungünstigsten Zeitpunkt erwischt, den man sich
vorstellen kann, um ein Kind aus Kenia zu adoptieren. Gebannt verfolgt
sie jeden Tag die Fernsehnachrichten. In der deutschen Botschaft in
Nairobi hat man Sandra Wengers Telefonnummer registriert, um sie rasch
verständigen zu können, wenn die deutschen Staatsbürger evakuiert werden
sollen.
Nur: Was geschieht dann mit Charity Nyakio? Noch ist sie nur ihr
Pflegekind. Noch hat sie keinen deutschen Pass.
In Dötlingen, einem Dorf unweit von Bremen, leben Kathrin und Stefan
Huntemann inzwischen mit ihrer kenianischen Tochter Joyce. In einem Haus
wie aus der Bausparkassenwerbung. Direkt an einem See, zu dem nur sie
Zugang haben. In einer heilen Welt, als glückliche Familie. Ende
November 2006 ging ihr Adoptionsverfahren in Nairobi zu Ende, wenig
später, noch vor Weihnachten, konnten sie Kenia zu dritt verlassen.
Joyce, knapp zweieinhalb Jahre alt, ist jetzt ihr eigenes Kind.
Aber auch Kathrin und Stefan Huntemann machen sich Sorgen über die
Situation in Kenia. Sie verfolgen die Meldungen im Internet, versuchen
Kontakt zu halten zu den Menschen, die sie während der acht Monate in
Kenia kennengelernt haben. Sie möchten bald wieder hinfliegen und fragen
sich, ob die Sicherheitslage das überhaupt zulassen wird. Sie sind
entsetzt über die Gewalt und den Hass. Die Huntemanns hatten Kenia ganz
anders erlebt. Als wunderbares Land mit wunderbaren Menschen. Und sind
jetzt noch viel gewisser als je zuvor, dass ihre Entscheidung, ein Kind
aus Kenia zu adoptieren, die richtige war. Was wäre sonst aus Joyce
geworden? Auch sie ist eine Kikuyu. Immer wieder wird von regelrechten
Hetzjagden auf diese Ethnie berichtet.
Adoption als Deal: Wir retten das Kind, das Kind rettet uns
Adoptionen aus dem Ausland haben hierzulande keinen guten Ruf. Grund
dafür mag manchmal eine diffuse Furcht vor allem Fremden sein. Und
manchmal die wohlmeinende Sorge, die dunkelhäutigen Kinder könnten es
schwer haben in unserer Gesellschaft. Auch Kathrin Huntemann muss sich
immer wieder rechtfertigen, obwohl sie die ganze Geschichte oft eher wie
einen Deal betrachtet: Wir haben Joyce das Leben gerettet. Und sie hat
dafür uns gerettet. Wir sind jetzt eine Familie.
Vielleicht hat man zu oft von Kinderhändlern gelesen, die Babys
entführen oder ihren Müttern für ein paar Cent abschwatzen, um sie an
Amerikaner oder Europäer zu verhökern. Allein aus Guatemala werden nach
Schätzungen von Unicef jedes Jahr 1000 bis 1500 Kinder in reiche Länder
verschickt.
In den USA arbeiten 6000 Organisationen in Sachen Adoption und bieten
ihre Dienste auf Internetseiten an. Besonders beliebt bei kinderlosen
US-Amerikanerinnen: Man einigt sich noch während der Schwangerschaft mit
der Mutter, die ihr Kind nicht behalten will. Man bezahlt ihr, unter
anderem, die Arzt- und Entbindungskosten. Dann können die künftigen
Adoptiveltern sogar die Geburt miterleben und »ihr« Kind noch im
Kreißsaal in die Arme schließen.
In Hollywood scheint es keinen Star mehr zu geben, der nicht Kinder aus
der Dritten Welt adoptiert hätte. Eines oder zwei, am liebsten gleich
mehrere. Diane Keaton, Mia Farrow, Meg Ryan, Sharon Stone, Michelle
Pfeiffer, Nicole Kidman – sie alle lassen sich gern mit den kleinen
Asiaten, Latinos und Afrikanern fotografieren, die sie einem düsteren
Schicksal entrissen haben.
Dank Madonna, dank Angelina Jolie und Brad Pitt ist Auslandsadoption
auch bei uns zu einem Lieblingsthema der Regenbogenpresse geworden.
Natürlich mit all der gebührenden Kritik daran, dass Madonna doch
eigentlich schon zu alt sei für ein Adoptivbaby. Über die verworrenen
Verwandtschaftsverhältnisse ihres Sohnes aus Malawi weiß inzwischen jede
Deutsche Bescheid, die nur oft genug im Wartezimmer oder unter der
Trockenhaube in Bunte oder Gala blättert.
Doch nicht immer landen Kinder, die von einem Land ins andere adoptiert
werden, in einem Kinderzimmer voller Plüschtiere und Spielsachen: In
Nepal hat es traurige Tradition, Mädchen aus armen Familien als billige
Arbeitskräfte nach Indien zu verkaufen. Von Südostasien nach Arabien,
von einem afrikanischen Land ins andere: Oft verbirgt sich hinter
Adoptionen nichts anderes als Menschenhandel. Und oft enden die
verkauften Kinder und Jugendlichen als Arbeits- oder Sexsklaven.
Hunderttausend Kinder sind in den letzten 50 Jahren allein aus Korea ins
Ausland adoptiert worden. Und heute holen sich koreanische
Fernsehzuschauer ihren Gefühlskick, wenn in Realityshows junge
Erwachsene, die kein Wort koreanisch sprechen, mit Hilfe von
Dolmetschern ihre Eltern suchen. Häufig melden sich gleich mehrere
Kandidaten. Und manchmal kennen sie den Geburtstag des Kindes nicht
einmal annäherungsweise.
Mittlerweile werden auf den Adoptionsseiten im Internet vor allem Kinder
aus Osteuropa angeboten. Schließlich verzichten allein in Russland nach
offiziellen Angaben jährlich 13.000 Mütter noch im Krankenhaus auf ihr
Kind, 375.000 Kinder leben in Vormundschafts- und Pflegefamilien,
300.000 in Kinderheimen. Ihre Zahl steigt ständig, viele von ihnen
stehen für eine Adoption zur Verfügung – und natürlich können die Heime
eine saftige Spende gut gebrauchen. Während Kinder aus Lateinamerika zu
bekommen gar nicht so einfach ist, zumindest auf legalem Weg. »Dort sind
die Spanier viel zu aktiv«, sagt eine Insiderin aus der deutschen
Adoptionsszene.
Auch wenn das Vergrößerungsglas medialer Aufmerksamkeit für deutsche
Promi-Adoptivfamilien (Schröder, Bogner, Jauch) etwas anderes glauben
macht: Im internationalen Adoptionsgeschäft ist Deutschland nur ein
kleines Licht. Verglichen mit solchen Ländern wie den USA, Israel,
Italien oder Spanien ist Auslandsadoption hierzulande – zumindest
zahlenmäßig – nur eine Randerscheinung (siehe Adoptionen in
<http://www.zeit.de/2008/11/Adoptionen-Statistik> Zahlen).
Nach einer Studie der Universität Dortmund kamen zwischen 1982 und 2004
insgesamt knapp 17.000 ausländische Kinder nach Deutschland. Das ist
nicht viel, verteilt auf 22 Jahre, in denen die Zahlen stagnierten,
zuletzt sogar abnahmen.
Nach vier Jahren Behandlung wegen Kinderlosigkeit gab das Paar auf
Und trotzdem: Fast jeder kennt jemanden, dessen Bekannte ein Kind aus
Indien, aus Bolivien, aus Äthiopien adoptiert haben. Oft war es schwer
traumatisiert und wurde zum Albtraum für die Familie, die Schule, die
Nachbarschaft. Fast jeder weiß auch von »Gutmenschen« zu berichten, die
in all ihrer Blauäugigkeit und Menschenliebe ein dunkelhäutiges Kind in
ein – sagen wir – schwäbisches Dorf geholt haben. Wo es verspottet,
drangsaliert und als »Stück Scheiße« beschimpft wurde. Und in der
schlimmsten Variante der Geschichte wollte es zum Schluss nicht mehr
leben und erhängte sich im Kinderzimmer.
Dass bei Adoptionen aus der Dritten Welt vieles schieflaufen kann, ist
bekannt. Viel weniger bekannt ist das »Haager Übereinkommen vom 25. Mai
1993 über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet
der internationalen Adoption«. Durch dieses Abkommen, das inzwischen 74
Staaten anerkennen (sowohl typische Herkunftsländer als auch typische
Aufnahmeländer von Adoptivkindern), soll Kinderhandel unterbunden und
eine Adoption ins Ausland überhaupt nur dann erlaubt werden, wenn es
nicht möglich ist, das Kind im eigenen Land unterzubringen, im eigenen
Kulturkreis.
Diese Haager Konvention ist es auch, die manchen Leuten das
Kinderkriegen so schwer macht. Leuten wie Sandra Wenger und ihrem Mann
Andreas, Leuten wie Kathrin und Stefan Huntemann. Menschen, die sich
ganz bewusst dazu entschlossen haben, den komplizierten, hürdenreichen,
kostspieligen, nervenzehrenden, dafür aber legalen Weg zu einem
Adoptivkind zu gehen.
Kathrin Huntemann ist 38 Jahre alt, zuletzt arbeitete sie als
Anästhesistin in einem Krankenhaus in Oldenburg. Stefan Huntemann ist
40, IT-Experte in einer Software-Firma, die er selbst gegründet hat.
Seit acht Jahren sind sie verheiratet. Ganz zu Anfang hatten sie einmal
über Adoption gesprochen. Nein, hatte Stefan Huntemann da gesagt, das
könne er sich wirklich nicht vorstellen. So ein Kind bedeute doch auch
Verzicht und Einschränkungen. Und das würde er nur für sein eigenes Kind
auf sich nehmen. Doch Kathrin Huntemann wurde nicht schwanger, vier
Jahre lang waren sie »immer mal wieder« in Behandlung wegen ihrer
Kinderlosigkeit, schließlich gaben sie auf. Als Kathrin Huntemann dann
doch noch schwanger wurde, erlitt sie eine Fehlgeburt.
Ende 2004 entschloss sich das Ehepaar zu einer Adoption. Die
Anästhesistin hatte eines Abends von einem Kollegen erzählt, der gerade
zwei Mädchen aus Haiti adoptierte, und Stefan Huntemann hatte »Hmm!«
gesagt. Ein paar Tage später erzählte er ihr, was er im Internet über
Auslandsadoptionen herausgefunden hatte. Er zeigte ihr zwei Bücher, die
er bestellt hatte, und sagte: »Ich glaube, wir machen das!« Stefan
Huntemann war jetzt viel schneller, bestimmter als seine Frau. Über die
Adoption eines Kindes aus Deutschland hatten sie gar nicht erst
nachgedacht. Die Zahlen sind schließlich bekannt: Auf jedes Kind, das
hier zur Adoption freigegeben wird, warten zwölf potenzielle
Elternpaare.
Doch auch eine Adoption aus dem Ausland beginnt beim zuständigen
deutschen Jugendamt. Dort, in Wildeshausen, wurden die Huntemanns
beraten – und befragt. Sie mussten Unterlagen zusammentragen:
polizeiliches Führungszeugnis, Heiratsurkunde, ärztliche Atteste,
Einkommensnachweise.
»Man macht sich – auf gut Deutsch – nackig«, sagt Kathrin Huntemann und
blättert in dem dicken blauen Aktenordner mit der Aufschrift »Adoption«.
Das Jugendamt erstellt einen »Sozialbericht«, aber die meisten
Jugendämter vermitteln selbst keine Kinder aus dem Ausland. Darauf haben
sich gemeinnützige Organisationen spezialisiert, von denen es in
Deutschland gerade mal ein gutes Dutzend gibt. Sie werden von den
Landesjugendämtern überwacht und haben jeweils nur die Zulassung für die
Vermittlung aus ganz bestimmten Ländern.
Die Huntemanns landeten bei Help a child e.V. in Kaltenengers bei
Koblenz. Jetzt mussten sie sich von den Sozialarbeiterinnen des Vereins
auf Herz und Nieren prüfen lassen. Mussten ein Wochenendseminar für
Adoptionsbewerber besuchen. Mussten einen 14-seitigen Fragebogen
ausfüllen. Mussten Antwort geben auf Fragen wie:
»Haben Sie Vermögen?«
»Haben Sie sich jemals wegen einer psychischen Erkrankung untersuchen
oder behandeln lassen?«
»Wie glauben Sie damit umgehen zu können, wenn Sie z. B. als ›Flittchen‹
oder ›gehörnter Ehemann‹ bezeichnet werden?«
Schmähungen, mit denen rechnen muss, wer sich mit einem schwarzen Kind
in der deutschen Öffentlichkeit zeigt. Help a child vermittelt nur
Kinder aus Haiti, aus Burkina Faso und – aus Kenia. Die Entscheidung
fiel anhand einer Strichliste: Vorteile, Nachteile. Landessprache. Wie
lange müssen wir im Land bleiben? Aus welchen Situationen kommen die
Kinder? Können wir das Land später problemlos besuchen, damit unser Kind
sieht, woher es kommt?
Anfangs glaubten Kathrin und Stefan Huntemann noch, mit drei Monaten
Aufenthalt im Land werde alles erledigt sein. Dass es länger, sehr viel
länger dauern würde, wurde ihnen klar, als sie begannen, sich mit Kenia
zu beschäftigen, mit Afrika. Jetzt lasen sie alles, was sie in die Hände
bekamen, informierten sich in Internetforen.
Irgendwann im Sommer 2005 schickten sie 26 Dokumente – beglaubigt,
übersetzt und überbeglaubigt – nach Kenia, an das staatliche
Adoptionskomitee. Im Mai 2006 bekamen sie den »Kindervorschlag«: Joyce,
sieben Monate alt, gesund, ein Findelkind. Seine Mutter hatte es kurz
nach der Geburt am Straßenrand abgelegt.
Heute sind die Huntemanns froh, dass nach acht Monaten in Kenia alles
erledigt war. Und sind gleichzeitig dankbar für diese lange Zeit. Weil
sie dadurch eine enge Beziehung zu Joyce aufbauen konnten, Kathrin
Huntemann sowieso, aber auch ihr Mann, der in den acht Monaten sechsmal
nach Kenia geflogen ist und zwischendurch wieder zurück nach
Deutschland, zum Arbeiten. Irgendwann werden sie ihrer Tochter sagen
können, dass sie eine Ahnung haben von dem Land, aus dem sie stammt.
»Kenia«, sagt Kathrin Huntemann, »ist ein stolzes Land mit stolzen
Bewohnern.« Sie hat dort durchaus auch Menschen getroffen, die ihr als
Adoptivmutter mit Argwohn begegneten. Nicht nur Entwicklungshelfer, die
ihr, der promovierten Ärztin, erklären wollten, dass es bessere Wege
gebe, einem Land zu helfen. Eine Kenianerin hörte sie sagen: »Wir haben
es nicht nötig, unsere Kinder ins Ausland zu vermitteln. Wir können
unsere Probleme selber lösen.«
Kathrin Huntemanns Antwort ist so ehrlich wie entwaffnend: »Wir sind
diesen Weg nicht gegangen, um Samariter zu sein. Wir wollten schlicht
und einfach eine Familie sein. Mit Kind.«
Aber Kathrin Huntemann ist in den acht Monaten in Kenia nicht untätig
geblieben. Sie hat ein Hilfsprojekt aufgezogen, einen Brunnen bohren
lassen, malariakranke Waisenkinder zum Arzt gebracht, Kinderheime mit
Schuhen, Bettdecken und Matratzen versorgt. Sie hat selbst mit
angepackt, wenn es notwendig war, und ist mit Kollegen von Ärzte ohne
Grenzen in die übelsten Slums von Nairobi gefahren. So hat sie ein
ziemlich klares Bild dessen, was aus Joyce in Kenia geworden wäre: Sie
wäre auf der Straße gelandet. Hätte später vielleicht als Prostituierte
gearbeitet. Oder sie wäre bei den jüngsten Massakern umgekommen. Vor
diesem Schicksal haben sie Joyce bewahrt. Davon sind sie überzeugt.
Kenia will der Welt beweisen: Wir kämpfen gegen den Kinderhandel
Kenia, das sind 37 Millionen Menschen, von denen jeder vierte mit
weniger als einem US-Dollar pro Tag lebt. Acht von hundert Kindern
sterben noch im ersten Lebensjahr. 1,2 Millionen Kenianer leben mit HIV
oder Aids. 150000 fallen der Seuche jedes Jahr zum Opfer.
Durchschnittliche Lebenserwartung: 48 Jahre.
Gleichzeitig machen Strände, Nationalparks und Massai den Tourismus zum
wichtigsten Wirtschaftszweig – zumindest war es so bis zum Ende
vergangenen Jahres. Ein Wirtschaftswachstum von sieben Prozent.
Blumenfarmen, in denen Rosen für halb Europa wachsen, rentabel durch die
Äquatorsonne, durch lasche Umweltschutzgesetze und billige
Arbeitskräfte.
Und Nairobi, die Hauptstadt: Luxushotels, Wolkenkratzer, mondäne Villen
hinter Mauern und Stacheldraht, Shoppingmalls. Doch 60 Prozent aller
Bewohner der Hauptstadt leben in Slums. Ohne Trinkwasser, ohne sanitäre
Anlagen, oft ohne Strom. Dazu korrupte Beamte und skrupellose Politiker,
wie spätestens seit der gefälschten Präsidentenwahl die ganze Welt weiß.
Der Gewaltausbruch danach hat gezeigt: In einem solchen Klima zählt ein
Menschenleben nicht viel. Es sei denn, man kann es zu Geld machen.
Noch im Jahr 2005 fielen zwei internationale Berichte wenig
schmeichelhaft aus für Kenia: der Menschenhandelsreport des
US-Außenministeriums und der Bericht »Menschenhandel in Afrika, vor
allem an Frauen und Kindern« des Unicef-Forschungszentrums Innocenti in
Florenz. Kenia tauchte in jeder Kategorie auf: als Herkunftsland, als
Transitland und als Bestimmungsland. Kenianische Kinder würden ins
Ausland verkauft, »zur sexuellen Ausbeutung oder zur Zwangsarbeit in
Haushalten oder in der Landwirtschaft«, so der US-Report, sie würden in
die Küstenregion gebracht, um der steigenden Zahl von Sextouristen zu
Willen zu sein.
Allerdings – und auch das stand in dem Bericht: Die Regierung in Nairobi
unternehme deutliche Anstrengungen, um den Menschenhandel einzudämmen
und zu ahnden.
Ein Land, das von Entwicklungshilfe ebenso abhängig ist wie vom
Tourismus, kann internationale Kritik nicht auf Dauer ignorieren. So hat
Kenia die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 ratifiziert. 2001 beschloss
das Parlament in Nairobi ein eigenes Kinderschutzgesetz, den Children
Act – gegen Kinderarbeit und Kindesmissbrauch, gegen
Genitalverstümmelung und Kinderhandel. Und mit genauen Regeln für
Adoptionen, auch für solche ins Ausland.
Nach den neuerlichen Vorwürfen nun tat Nairobi alles, um der
Weltöffentlichkeit zu beweisen: Wir kämpfen entschlossener denn je gegen
den Kinderhandel.
Als Kathrin und Stefan Huntemann im Mai 2006 nach Nairobi flogen, waren
sie die Allerersten, die ein Kind nach den neuen kenianischen Gesetzen
adoptieren wollten. Diese sehen vor: Bevor ein Adoptionsprozess vor dem
High Court überhaupt in Gang kommen kann, müssen die Adoptionsbewerber
das Kind für mindestens drei Monate in Pflege nehmen. In Kenia. Ohne das
Land mit dem Kind verlassen zu dürfen. Danach erst können sie den
Adoptionsantrag stellen.
Die Huntemanns sitzen in ihrer Küche in Dötlingen und erzählen von den
drei Gerichtsterminen. Erstens die Eröffnung des Verfahrens. Zweitens
die Hauptverhandlung. Drittens die Urteilsverkündung. Bei ihnen waren es
sogar vier Termine, denn die Hauptverhandlung hatte die Richterin mit
den Worten eröffnet: »Ich bin heute extrem schlecht gelaunt!«
Dann wollte sie von Stefan Huntemann wissen, was ein »Amtsgericht« in
Deutschland sei. Das Amtsgericht Oldenburg hatte ihre Dokumente
überbeglaubigt. »Ein Amtsgericht, was wäre das im kenianischen
Rechtssystem?« Stefan Huntemann wusste es nicht. Er ist kein Jurist.
Dann wollte die Richterin einen Nachweis dafür sehen, dass Help a Child
auch in Kenia als Adoptionsagentur zugelassen ist. Joram Mwenda, der
Anwalt der Huntemanns, saß sprungbereit, hatte seine Finger zwischen den
Blättern der Akte und antwortete so schnell, wie die Richterin fragte.
»Ja, Mylady!« »Nein, Mylady!« »Hier, Mylady!«
Zuletzt ging es darum, einen Vormund zu bestellen – für den Fall, dass
den Adoptiveltern etwas zustößt. Stefan Huntemann benannte seinen Vater.
Die Richterin lehnte ihn ab. Mit 63 sei er zu alt.
Jetzt hatten sie genau eine Woche Zeit, um einen neuen Vormund zu
finden, samt Dokumenten (übersetzt, beglaubigt und überbeglaubigt). Sie
schafften es, bis zum dritten Termin am 17. November. Eine Woche später
wurde das Urteil gesprochen. Joyce heißt seitdem Huntemann. Kathrin und
Stefan sind ihre Eltern.
Die drei haben ziemliches Glück gehabt. Viel mehr Glück als Sandra und
Andreas Wenger, die sie gut kennen, weil sie damals, im Mai 2006, fast
gleichzeitig in Nairobi ankamen und, betreut von derselben
Adoptionsagentur, in derselben Apartmentanlage wohnten.
Sandra Wenger sitzt auf dem einzigen Sofa in ihrem Apartment in
Nairobi-Westlands. Sie lässt das quirlige kleine Mädchen nicht aus den
Augen, das sie schon Joana nennt und das noch ihre Pflegetochter ist.
Sie beginnt ihre Geschichte zu erzählen und die ihres Mannes Andreas.
Und wie die große Politik ihrem vergleichsweise kleinen Glück gleich
mehrmals in die Quere gekommen ist.
33 Jahre alt ist Sandra Wenger, Beamtin, bis zum vergangenen Juli hat
sie als Rentenberaterin gearbeitet. Andreas Wenger ist 34,
Versicherungsmakler, Geschäftsführer von zwei Firmen, die ihm gehören.
Seit 14 Jahren kennen sich die beiden, vor 10 Jahren sind sie
zusammengezogen.
Irgendwann haben sie erfahren, dass Andreas an einer seltenen
Stoffwechselkrankheit leidet. Nicht schlimm bei ihm, aber die Krankheit
kann vererbt werden, ein leibliches Kind könnte schwerstbehindert sein.
Im März 2005 stand ihr Beschluss fest: Sie wollten ein Kind adoptieren.
Auch Sandra Wenger ist ganz offen. Sie wollen Joana, um »eine richtige
Familie zu werden. Nur darum geht es uns«, sagt sie. »Wir wollen nicht
ein armes Waisenkind adoptieren, um etwas Gutes zu tun. Wenn ich was
Gutes tun will, dann spende ich.«
Auch Wengers entschieden sich für Kenia, obwohl sie beide noch nie in
Ostafrika gewesen waren, obwohl sie nur ungenaue Vorstellungen von dem
Land zwischen Indischem Ozean und Victoriasee hatten. Aber sie wussten,
dass man in Kenia englisch sprach. »Und Englisch kannste einigermaßen«,
sagte sich Sandra Wenger. Sie wussten auch, dass künftige Adoptiveltern
in Kenia ihr Kind gleich aus dem Heim holen dürfen, nicht erst nach
Monaten, wenn der Adoptionsprozess beendet ist.
Jetzt mussten sie nur noch den künftigen Großeltern erklären, dass sie
bald ein schwarzes Enkelkind kriegen würden.
Bisher hatten ihre Familien es klaglos mitgetragen, dass sie ein Kind
adoptieren wollten. Auch aus dem Ausland. Auch aus der Dritten Welt. Sie
selbst waren offen damit umgegangen. Aber ein schwarzes? Natürlich hatte
Sandra Wengers Mutter nichts gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe. Aber
die Gesellschaft! Das kann Probleme geben. Davor wollte sie ihre Tochter
schützen. Und ihr Enkelkind.
Ein Waisenhaus zwischen verkommenen Rohbauten
Noch immer steht dieser Zweifel im Raum, zwischen Sandra und ihrer
Mutter. Obwohl die Großmutter inzwischen schon mehrmals in Kenia war und
die kleine Joana ins Herz geschlossen hat. »Vielleicht geht sie ja
einmal nach Kenia zurück«, sagt die Großmutter manchmal, wenn sie sich
zu sehr sorgt, ob Joana als Erwachsene ein glückliches Leben in
Deutschland führen wird.
Im Januar 2006 also, eineinhalb Jahre nach ihrer Hochzeit, hatten Sandra
und Andreas Wenger ihren Adoptionsantrag nach Nairobi geschickt. Im Mai
2006 erreichte sie der »Kindervorschlag«. Sie sahen sich die Fotos erst
am Abend an, als sie beide zu Hause waren. Und blieben seltsam
unberührt. »Ich hatte mir das immer als was Großes vorgestellt«, sagt
Sandra Wenger. Aber jetzt war da nichts als ein fremdes, schwarzes Baby
auf dem Bildschirm.
Ein paar Tage später saßen sie im Flugzeug nach Nairobi, zogen in das
Apartment in Westlands. Am nächsten Morgen stiegen sie in ein Taxi und
fuhren hinaus nach Githurai. Ins Waisenhaus.
Sie ließen die Villen mit den stacheldrahtbewehrten Mauern hinter sich,
das Safari Park Hotel mit seinen großzügigen Grünanlagen. Die
Schlaglöcher in der Straße wurden tiefer, die Läden am Straßenrand
armseliger. Bald waren es nur noch Bretterbuden. Weiter unten, in einer
Senke, tauchte Githurai auf, ein diffuser Brei aus flachen und
mehrstöckigen Gebäuden, der am Horizont im Dunst verschwamm. Da gab es
Häuser, die aussahen wie Ruinen. Oder wie verkommene Rohbauten. Aber die
Wäsche vor den Fensterhöhlen verriet, dass dort Menschen wohnten. Das
Taxi bog von der Hauptstraße ab und rumpelte durch ein Gewirr von
unbefestigten Gassen, in denen der Tropenregen tiefe Furchen
hinterlassen hatte. Als Sandra und Andreas Wenger vor dem Open Hands
Children’s Home aus dem Auto stiegen, wussten sie: Sie waren angekommen,
in der kenianischen Wirklichkeit. Hier am Stadtrand wuchert Nairobi wie
ein hässliches Geschwür.
Dann standen sie im Hof des Waisenhauses, das nicht viel mehr war als
eine ebenerdige Baracke mit ein paar winzigen Räumen, einer Küche und
einer Latrine, und jemand brachte ihnen ein Kind in einem roten
Rüschenkleid. Ihr Kind. Es sei »aufgeweckt und fröhlich«, hatte in den
Papieren gestanden. Aber jetzt sah es sie nur mit großen Augen an. Sie
nahmen es auf den Arm, sie gaben ihm die Flasche. Es ließ alles über
sich ergehen. Aber es lächelte nicht.
Ein, zwei Stunden blieben sie in dem Waisenhaus, sprachen mit den
Betreuerinnen und versuchten sich vorzustellen, eine richtige Familie zu
sein: Vater, Mutter, Kind. Sie beide und dieses kleine schwarze Mädchen
mit den großen Augen.
Dass es bei diesem ersten Besuch nicht lächelte, darauf waren sie
gefasst gewesen. »Liebe, Zuneigung, Vertrauen, das wird sich alles erst
langsam entwickeln«, hatte ihnen die Adoptionsberaterin von Help a child
zu Hause in Deutschland immer wieder gesagt. Sie würden morgen
wiederkommen, übermorgen, irgendwann würde das Eis brechen.
Was aber am Nachmittag des gleichen Tages geschah, darauf hatte sie
niemand vorbereitet. Ein Anruf in ihrem Apartment: »Das Komitee hat
ihren Antrag abgewiesen. Sie können das Kind nicht adoptieren.«
Plötzlich merkten sie, wie sehr sie Joana schon ins Herz geschlossen
hatten. Wie allein sie sich fühlten, zu zweit in dem Apartment, während
draußen, am Pool, Kinder kreischten und Mütter lachten.
Was war geschehen? Irgendjemand hatte noch einmal genau nachgerechnet.
Und festgestellt, dass sie noch keine drei Jahre verheiratet waren. Zwar
von 2004 bis 2006, aber keine 36 Monate. Die allerdings sind eine der
Voraussetzungen für eine Auslandsadoption nach den neuen kenianischen
Gesetzen.
»Ebbesei« plappert Joana, und es klingt wie Eppelsheim
Sie lebten doch seit neun Jahren in einer eheähnlichen Gemeinschaft,
argumentierten sie, und ließen sich von der deutschen Botschaft
attestieren, dass das unter jungen Paaren in Deutschland durchaus üblich
sei. Sie hofften auf ein Einsehen. Aber das staatliche Adoptionskomitee
war entschlossen, das Gesetz mit aller Härte anzuwenden. Man wollte der
Welt etwas beweisen.
Um es kurz zu machen: Andreas Wenger musste nach zwei Wochen nach
Deutschland zurück, für eine längere Zeit hatte er sich im Büro nicht
freinehmen können. Sandra Wenger blieb noch bis Anfang August in
Nairobi; danach suchte und fand sie einen Weg, Joana immer wieder einmal
zu sehen. Und schließlich reiste sie im vergangenen Sommer erneut nach
Kenia, zusammen mit ihrem Mann, genau drei Jahre nach ihrer Hochzeit.
Am 28. August 2007 nahmen sie Joana offiziell in Pflege und holten sie
zu sich, in ihr Apartment nach Westlands.
Inzwischen hat Joana auch das Lachen gelernt. Sie beherrscht alle
Tricks, mit denen Zweijährige sich der Aufmerksamkeit ihrer Mutter
vergewissern. Wenn Sandra Wenger »Wo ist der Papa?« fragt, plappert
Joana etwas, das wie »ebbesei« klingt. Eppelsheim. Den Papa sieht sie
auf den vielen Fotos, die an der Wand hinter dem Esstisch kleben.
Manchmal ist er auch am Telefon, aber das versteht Joana noch nicht so
richtig.
Ende November waren die drei Monate Pflegschaft endlich vorbei. Bei
einem letzten Hausbesuch hatte sich Susan Otuoma, die Sozialarbeiterin
der kenianischen Adoptionsagentur, davon überzeugt, dass es Joana gut
geht bei Sandra Wenger. Wie viele Mahlzeiten bekommt das Kind am Tag?
Schläft es mittags noch? Bekommt es momentan irgendwelche Medikamente?
Erkennt es seinen Adoptivvater, wenn er zu Besuch kommt? Zeichnet es
gern? Und dann zu Joana: »Wo ist dein Zimmer? Zeig mir dein
Schlafzimmer!« Joana zeigte mit ihrem Finger in den Flur. Aber dort
hingehen mit der fremden Frau wollte sie nicht.
Auch die Adoptivmutter kann nicht mehr in ihr altes Leben zurückkehren
Susan Otuoma war trotzdem zufrieden. Am nächsten Tag konnte Mrs. Musyni,
Sandra Wengers Anwältin, den Adoptionsantrag beim High Court einreichen.
Sandra Wenger zeigte der Sozialarbeiterin noch das petrolgrüne Kostüm,
das sie sich für die Gerichtstermine gekauft hatte. Denn der Dresscode
ist streng vor kenianischen Gerichten. »Das ist genau richtig«, sagte
Susan Otuoma. »Und wie spreche ich den Richter an?« – »Sagen Sie
›Mylord‹ zu ihm. Oder ›My Lordship‹.«
Draußen fuhr ein Lautsprecherwagen vorbei. Es war Wahlkampf in Kenia.
Die Wahl fand zwischen Weihnachten und Neujahr statt. Sandra Wenger
verbrachte den Jahreswechsel mit ihrer Mutter und Joana in Naivasha, wo
es einen See gibt, einen Nationalpark mit Geysiren, Rosenplantagen. Als
sie nach Nairobi zurückkamen, waren alle Geschäfte geschlossen, auch das
Sarit Center, das sie immer zu Fuß besucht hatten, zum Einkaufen. Eine
seltsame Spannung lag in der Luft. Tagelang kamen die Hausangestellten
nicht zur Arbeit, weil es zu gefährlich gewesen wäre, durch die Stadt zu
fahren. Die Torwächter mussten 36 Stunden Dienst schieben, weil die
Ablöse nicht kam.
Aus den Fernsehnachrichten erfuhr Sandra Wenger, dass Naivasha innerhalb
von Stunden zu einem der gefährlichsten Orte Kenias geworden war.
Tagelang wusste sie nicht, wie es weitergehen würde. Ob die Richter, die
Anwälte, die Beamten, von denen ihr Adoptionsprozess abhing, überhaupt
aus den Weihnachtsferien zurückkehren würden.
Dann begann sich das Leben in Nairobi langsam wieder zu normalisieren.
Hinter den Mauern ihrer Apartmentanlage fühlt sich Sandra Wenger jetzt
sicher. Aber wenn sie in die Innenstadt will oder nach Githurai ins
Waisenhaus, dann ruft sie am Tag zuvor Erustus an, den Taxifahrer, dem
sie vertraut, und fragt ihn, ob das derzeit anzuraten sei. Ins
Waisenhaus fährt sie, weil sie Kontakt halten will zu den Menschen, die
sich in den ersten Monaten um Joana gekümmert haben. Geschenke darf sie
nicht mitbringen, das verbieten die Adoptionsbestimmungen. Es soll nicht
der Eindruck entstehen, jemand würde für ein Adoptivkind bezahlen.
Einmal seit Anfang des Jahres war Sandra Wenger auch draußen, im Westen
der Stadt, in Limuru. Dort sind Flüchtlinge aus Westkenia gestrandet.
Sie brachte ihnen Spenden, die Help a child in Deutschland gesammelt
hat. Auch Sandra Wenger hat Kenia und seine Menschen ins Herz
geschlossen. Sie mag das Land, sie fühlt sich wohl hier, trotz allem.
Ein bisschen Bammel hat sie vor der Rückkehr nach Deutschland. »Im
Prinzip«, sagt sie, »komme ich nicht mehr in mein altes Leben zurück.
Und ich wäre garantiert eine andere Mutter geworden, wenn ich ein
leibliches Kind in Deutschland bekommen hätte.« Wie wird sie ihren Mann
in ihr Leben mit Joana integrieren? Wie wird sie das Erziehen mit ihm
teilen, nach all den Monaten als Alleinerziehende?
Das alles hat sie auch schon vor der Präsidentenwahl beschäftigt, als
Kenia noch als eines der sichersten und stabilsten Länder Afrikas galt.
Jetzt hofft sie einfach, dass ihr die Politik nicht noch einmal in die
Quere kommt. Dass wieder völlige Ruhe einkehrt, im ganzen Land.
Oder dass zumindest die Richter des High Court schneller sind als die
Unruhestifter.
Zum Thema
DIE ZEIT <http://www.zeit.de/2008/11/Adoptionen-Statistik> 11/2008:
Kleine Schar
Adoptionen in Zahlen [...]»
<http://www.zeit.de/2008/11/Adoptionen-Statistik>
DIE ZEIT <http://www.zeit.de/2008/11/Adoptionen-Alternativen> 11/2008:
Neue Nester
Alternativen zur Adoption [...]»
<http://www.zeit.de/2008/11/Adoptionen-Alternativen>
ZEIT online <http://www.zeit.de/online/2008/02/adoptionen> 02/2008: Die
verlorene Tochter
Ein Paar adoptiert zwei Kinder aus Afrika. Als eines Deutsch lernt,
deckt es seine Verschleppung auf. Der Fall erschüttert das Vertrauen in
Auslandsadoptionen. [...]»