Menschenhandel in China Kinder stehlen, Kinder kaufen

23 May 2010

23. Mai 2010, 12:54 Uhr

Menschenhandel in China

Kinder stehlen, Kinder kaufen

Von Andreas Lorenz, Peking

In China ist Menschenhandel an der Tagesordnung. Die Polizei ist machtlos, verzweifelte Eltern schließen sich zusammen, fahnden nach ihren Söhnen und Töchtern. Doch meist suchen sie erfolglos - weil das Geschäft so profitabel ist wie der Drogenhandel.

Guo Gangtang verkauft Kürbis-Kalebassen im Yiwu-City-Einkaufszentrum von Peking. Die gelben Behälter sind mit historischen Figuren, Feen oder Sinnsprüchen bedruckt, die Motive findet seine Frau im Internet.

Das Geschäft läuft nicht besonders, der Stand liegt zu versteckt in der hinteren Ecke, aber dort ist die Miete billiger. Mehr als 1000 Yuan, umgerechnet etwa 120 Euro im Monat, verdient Guo selten. Deshalb kann er sich nur einen Quadratmeter-Kellerraum unter dem Einkaufszentrum als Schlafstätte leisten. Dafür zahlt er monatlich rund 35 Euro.

Der Vermieter hat ihm aus Mitleid neulich die Standmiete erlassen. Denn Guo ist ein vom Schicksal schwer geschlagener Mann: Ihm ist sein Kind gestohlen worden. Seit 13 Jahren treibt ihn nur ein Wunsch um: es wiederzufinden.

Immer wenn der 40-Jährige genug Geld gespart hat, schraubt er zwei Fahnen auf den Rücksitz seines Mopeds und fährt hinaus ins Land. Auf dem Stoff ist das Bild eines kleinen Jungen zu sehen, sein Sohn Xinzhen.

Der Tag, an dem die Welt von Guo und seiner Frau zerbricht, hat ganz normal begonnen. Damals lebt er in einem Dorf in der Küstenprovinz Shandong, er transportiert auf einem Traktor Baumaterialen. Es ist der 21. September 1997. Söhnchen Xinzhen, zweieinhalb Jahre alt, und ein Nachbarmädchen spielen vor der Haustür, als eine Frau auf die Kinder zugeht. Die Unbekannte streicht mit einem Tuch über das Gesicht des Jungen, berichten Zeugen später. Dann wendet sie sich langsam zur Straße, die rund 100 Meter entfernt liegt.

"Ich ahnte sofort, dass etwas mit Xinzhen passiert war"

Der Kleine muss ihr gefolgt sein - seither ist er wie vom Erdboden verschluckt. "Als ich nach Hause kam, stand eine Menschenmenge vor meinem Haus", entsinnt sich Guo. "Ich ahnte sofort, dass etwas mit Xinzhen passiert war."

Guo rennt zur Polizeiwache. Nachbarn helfen ihm, nach dem Söhnchen zu fahnden. In den nächsten Wochen geben Guo und seine Frau viel Geld aus: Sie kleben Anschläge an Laternenmasten, lassen Flugblätter drucken, bezahlen Helfern circa einen Euro pro Tag dafür, in den umliegenden Ortschaften nach dem Kind zu suchen.

Bald treibt es Guo immer weiter durch das Land: "Außer in Tibet, Taiwan, Qinghai und in der Inneren Mongolei war ich in jeder Provinz", sagt er. Zeitungen und das Fernsehen werden aufmerksam und berichten über sein Unglück.

Der Raub von Kindern ist in der Volksrepublik an der Tagesordnung. Deshalb stehen vor Schulschluss im ganzen Land Großeltern oder Eltern am Tor. Sie wollen Menschenräubern keine Chance geben.

Es ist eines der ganz traurigen Kapitel des modernen Chinas. Zwischen 30.000 und 60.000 Babys, Kinder und Jugendliche verschwinden jedes Jahr, schätzen Experten. Sie werden entführt und verkauft, nicht selten als Sklaven in Werkstätten und Ziegelbrennereien missbraucht oder in Bordellen Freiern vorgesetzt.

"Sie haben mich gefragt, ob ich ein Kind zu verkaufen hätte"

Auf dem Weg zum Käufer betäuben die Menschenhändler oft ihre Beute, um sie am Schreien zu hindern. Manchmal überstehen die Kinder die Strapazen nicht. Chinas Medien berichten dann, man habe in Bussen oder Eisenbahnen kleine Leichname gefunden.

Zwei Flugstunden von Peking entfernt, in der Küstenstadt Lianyungang, spielt elf Jahre nach dem Verschwinden von Xinzhen am 30. November 2008 der zweijährige Baotong vor der Tür in einer Gasse. Vater Li Shouquan stellt in seiner kleinen Fabrik Sportschuhe her und verkauft sie aus dem Flur seines Wohnhauses heraus.

Im Hof drängt sich an diesem Tag die Kundschaft. An der Mauer lauert der Mann, der das Kind in einem unbeobachteten Moment mitnimmt. Zurück bleiben nur ein paar Zigarettenstummel unter einem mickrigen Bäumchen.

Li vermutet seinen Sohn irgendwo in der Nachbarprovinz Shandong. "Im Ort Tanshan gibt es einen Kindermarkt", erfährt er von Polizisten. Als er sich in einem der Dörfer in der Nähe umschaut, halten ihn die Leute selbst für einen Menschenhändler. "Sie haben mich gefragt, ob ich ein Kind zu verkaufen hätte und wie viel ich dafür wolle", berichtet er. "In deren Augen ist Menschenhandel nicht kriminell, er hat Tradition in China".

"Kinder gebären statt Schweine zu züchten"

Vor allem in den Dörfern sind Söhne wichtig. Nach alter Sitte ist es auf dem Land die Pflicht der männlichen Nachkommen und der Schwiegertöchter, die alten Eltern zu versorgen.

Aber auch in Städten wie Peking oder Shanghai finden sich Abnehmer gestohlener Kinder. Viele Chinesen wünschen sich verzweifelt das Baby, das nicht kommen will. Adoptionen sind kompliziert, außerdem werden in den Waisenheimen mittlerweile fast nur noch behinderte Kinder abgegeben.

Pekings Ein-Kind-Politik behindert das Geschäft nicht - im Gegenteil. Familien, die bereits den offiziell genehmigten eigenen Nachwuchs bekommen haben, kaufen sich einen Sohn oder eine Tochter hinzu. Für die Kidnapper ist das Geschäft lukrativ, für einen Jungen können sie über 4000 Euro verlangen, für Mädchen in der Regel die Hälfte. Für weniger zahlungskräftige Kunden bieten sie schon mal Sonderangebote, dann sind Babys für 80 Euro zu haben.

Die Polizei hat zwar eine Spezialtruppe gegen die Entführungen von Kindern und Frauen geschaffen, die Beamten zerschlagen jedes Jahr Menschenhändlerringe. 2009 gelang es der Polizei laut offizieller Statistik aber nur, 3400 Kinder aus den Fängen von Händlern und Käufern zu befreien. Erst nach 24 Stunden gilt vielerorts ein Kind als vermisst, und dann sind die Täter längst über alle Berge.

"Ein neues Kind im Dorf. Niemand stellt Fragen"

Immer wieder demonstrieren verzweifelte Eltern gegen die Passivität der Polizei - etwa in der südlichen Wanderarbeitermetropole Dongguan, wo zwischen 2008 und 2009 rund 1000 Kinder verschwanden. Nur 200 Opfer hätten die Beamten in ihre Akten aufgenommen, die anderen Fälle wurden abgewiesen, weil eine Straftat nicht erwiesen sei.

Die Chance, ein Kind aufzufinden, ist winzig. In den Dörfern herrschen oft Familienclans, die "wie Pech und Schwefel zusammenhalten", wie der Schuhfabrikant Li sagt. Die örtlichen Funktionäre gehören dazu. Die Beauftragte des Frauenverbandes, der Parteichef, der lokale Polizist - "alle wissen, dass plötzlich ein neues Kind im Dorf angekommen ist", sagt Li, "und niemand stellt Fragen".

Und da ist die Korruption, das Grundübel Chinas, ohne das der Menschenhandel in solch großem Umfang nicht möglich wäre. Geht alles seinen ordentlichen Gang, muss ein Kind auf dem Amt gemeldet werden, was ohne Geburtsurkunde und andere Unterlagen eigentlich nicht funktioniert. Mit den richtigen Beziehungen und einem hübschen Sümmchen für die Beamten lässt sich diese Hürde aber leicht nehmen.

Mit Menschen handeln allerdings nicht nur skrupellose Banden, sondern auch Eltern selbst. Manche Bauern sind so arm, dass sie einen weiteren Mund nicht stopfen können oder wollen, also verkaufen sie ihre Neugeborenen. Andere betrachten die Geburt und den Verkauf zusätzlicher Kinder als Verdienstquelle, sie ist einträglicher als mühsame Feldarbeit. In der Südwestprovinz Yunnan kursiert unter Bauern der Spruch: "Willst du Geld verdienen, sollst du Kinder gebären, statt Schweine zu züchten."

Wie Krankenschwestern den Verkauf von Kindern einfädeln

300 Kilometer westlich von Lianyungang, in Lushan, sitzt Herr Wang auf einem Kunstledersofa. Er ist ein gut aussehender junger Mann, Mathematiklehrer an der Mittelschule. Derzeit ist er in eine Dorfschule in den Bergen abgeordnet. Auch seine Frau ist Lehrerin - und sie haben sich ein Kind gekauft.

Seinen richtigen Namen will der Lehrer nicht nennen, um ihn herum schart sich die Familie. Sie misstrauen Journalisten. Zwar ist er nach chinesischem Gesetz nicht kriminell: Nur wer Menschen verkauft, macht sich strafbar, nicht aber, wer sie erwirbt.

Doch der Fall wirft ein schlechtes Licht auf ihn, schließlich sollen Pädagogen Vorbilder für die Gesellschaft sein. Herr Wang entschließt sich zu reden. Er will beweisen, dass er selbst ein Opfer ist. "Wir wollten nach unserem Jungen ein zweites Kind", sagt er. "Wir lieben Kinder. Und als sich die Gelegenheit bot, haben wir zugegriffen."

Die ergibt sich im Volkskrankenhaus an der Hauptstraße gleich gegenüber. Eine Verwandte hat gehört, dass eine Mutter ihr gerade geborenes Baby verkaufen will, weil sie es nicht ernähren kann. Zum verabredeten Zeitpunkt kommt Herrn Wang auf der Treppe des Hospitals ein Mann entgegen, den der Lehrer für den Vater hält. Der Mann hält das Kleine im Arm. "Wir gaben ihm über zehntausend Yuan", berichtet Wang.

Das Baby ist winzig und dürr. Die neuen Eltern päppeln es mit Milchpulver auf. "Manchmal dachten wir, wir bekommen es nicht durch", sagt die Mutter des Lehrers.

"Ich habe das Kind einmal im Waisenhaus besucht. Es erkannte mich nicht"

Auf dem Couchtisch liegt ein Album mit Fotos der Kleinen beim ersten Geburtstagsfest: Ein properes Mädchen, mal mit Hütchen, mal mit Sonnenbrille, mal ein Mobiltelefon in der Hand.

Das neue Familienglück währt nicht lange: Eines Tages stehen Beamte vor der Tür. Sie sind Bahnpolizisten aus der südwestlichen Provinz Guizhou. Im Zug 508 nach Peking waren ihnen ein paar Tage zuvor zwei Männer mit drei winzigen Kindern im Arm verdächtig vorgekommen. Einer gesteht, Lehrer Wang ein Baby verkauft zu haben. Die Frau des Kinderhändlers arbeitete als Krankenschwester in dem Hospital von Lushan, sie hat das Geschäft eingefädelt.

So kommt es, dass die Bahnpolizisten den Wangs die Kleine wieder wegnehmen. Sie bringen sie in ein Waisenhaus nach Guizhou. Weil nicht festzustellen ist, wer die leibliche Mutter des Mädchens ist, lebt es seit dem vergangenen September in dem Heim.

Der Lehrer hält das für skandalös, er würde das Mädchen gern behalten, bis die richtigen Eltern aufgetrieben worden sind. "Ich habe das Kind einmal im Waisenhaus besucht. Es war furchtbar. Es erkannte mich nicht mehr. Es entwickelt sich zurück, es spricht nicht mehr."

Wie der gekauften Tochter der Wangs ergeht es den meisten entführten Kindern, die aufgespürt werden - oder die sich selbst auf die Suche nach ihren richtigen Eltern machen. Nur selten gelingt es der Polizei, diese zu finden. Nachdem die Polizei im vorigen Jahr auf einer Web-Seite die Fotos von 60 geretteten Kindern veröffentlichte, fanden nur sieben ihre Verwandten.

Spielkarten mit Fotos der Gesuchten

Inzwischen untersuchen über 230 Labore im ganzen Land die DNA von Eltern und entdeckten Kindern. Der Staat trägt die Kosten von rund 200 Euro pro Test. Über 20.000 Proben wurden bislang gesammelt - zu wenig, um in dem Riesenreich effektiv Familien zusammenführen zu können.

So erfahren viele Menschen nie, dass jene Leute, bei denen sie aufwachsen, nicht ihre leiblichen Eltern sind. Um die Chancen zu vergrößern, dass Mütter und Väter ihre Kinder wiederfinden, haben private Gruppen mittlerweile Web-Seiten eröffnet, auf denen Eltern ihre vermissten Kinder suchen.

Was die Polizei gegen den Kinderklau tut

Aus den Lautsprechern des Nordbahnhofs der Yangtse-Stadt Chongqing in Zentralchina dringen die Klarinettentöne von Kenny G mit dem Frank-Sinatra-Klassiker "I did it my way". Ein Dutzend meist junger Menschen hält den Reisenden ein Transparent entgegen: "Gemeinsame Aktion von Freiwilligen aus Chongqing, Familienangehörige zu finden."

Initiator der Aktion ist Shen Hao, 41, ein Computerfachmann aus der Provinz Anhui. Vor neun Jahren hat er sich der Sache der Vermissten verschrieben, als er in der Zeitung vom Schicksal dreier verschwundener Mädchen las. Seither reist er durch Chinas Metropolen, um Passanten Spielkarten mit den Fotos der Gesuchten in die Hand zu drücken.

"Stets in Sichtweite der Kinder bleiben"

Die Karte "Herz Dame" zeigt etwa Wang Yafeng, die am 20. April 1987 in der Inneren Mongolei geboren wurde. Seit dem 7. Oktober 2008 ist sie verschwunden. Sie hat eine "große Nase" und "am Zeigefinger der rechten Hand eine Narbe, heißt es in winzigen Schriftzeichen, und: "Sie spricht Hochchinesisch."

Auf der "Pik neun" schaut unscharf ein junger Mann, der "ca. 1984" geboren wurde. Er sucht seine leiblichen Eltern. "Zwischen Mai und September 1990 entführt", schreibt er. Damals hatte er "große Augen und eine kleine Nase." Jetzt sei er 1,76 Meter groß, trage Schuhgröße 41.

Er stamme, erinnert er sich, aus einer Stadt, vielleicht in der Provinz Hunan, vielleicht war es auch Chongqing. "Auf beiden Seiten der Straße waren Märkte. Die Eltern trugen Uniform." Er entsinnt sich auch, dass er von Fremden in einem Bus in die Küstenprovinz Fujian transportiert wurde.

Auf den Karten stehen auch Tipps, wie Kinderklau erschwert werden kann: "Stets in Sichtweite der Kinder bleiben", heißt es zum Beispiel. Es folgt der Rat, Kinder tätowieren zu lassen - damit später die Identifizierung leichter fällt.

"Rund 800 Menschen konnten mit Hilfe unserer Web-Seite und der Karten ihre Verwandten wieder finden", berichtet Aktivist Shen stolz. 16.000 Spielkarten hat er bislang gedruckt. Er trägt einen grünen Anorak, sein Haarschopf ist steil aufgerichtet. Gerade ist eine Frau an ihn herangetreten, die seit ein paar Tagen ihren 13-jährigen Sohn vermisst. Sollte er nicht bald auftauchen, wird auch dieser Junge in der nächsten Auflage der Karten erscheinen.

"Ich würde ihn nicht zwingen, zu uns zurückzukommen"

Geld vom Staat erhält Shen nicht, er muss alles aus eigener Tasche, mit Beiträgen der Familien und Firmenspenden finanzieren. Die Behörden misstrauen Nicht-Regierungsorganisationen wie seiner. Immerhin stellen sie ihm bei seinen Reisen durch das Land einige Helfer zur Seite. "Kindesentführung", sagt Shen, " ist ein weltweites Problem. Es ist ein äußerst profitables Geschäft, wie der Drogenhandel."

Kalebassen-Verkäufer Guo kurvt Anfang Mai auf seiner roten "Haojue" auf der Landstraße 106 in der Provinz Hubei Richtung Wuhan, einer Millionenmetropole am Yangtse. Der Staub der Laster hüllt ihn ein, er trägt einen silbernen Helm, Jeans, Stoffschuhe und Knieschützer, Bartstoppeln spießen an seinem Kinn. 4000 Kilometer hat er in den vergangenen zwei Wochen bewältigt. "Ich will in Ortschaften, in denen ich noch nicht war", sagt er.

In einem kleinen Straßenrestaurant macht er Pause, ein paar Anwohner betrachten die Fahnen auf dem Moped. "Mein Kind ist entführt worden", erklärt Guo. Wenn er auf Menschen mit dem gleichen Schicksal trifft, gibt er seine Erfahrungen weiter: "Es gibt eine Web-Seite der Polizei, man kann einen DNA-Test machen."

Neulich hat er in der Zeitung einen zerlumpten Straßenjungen gesehen, der seinem Sohn ähnlich schien. Er ist sofort in den Ort gefahren, doch das Kind war nicht seins. Seine Frau und er haben inzwischen zwei weitere Jungen, zwölf und drei Jahre sind sie alt.

Was wäre, wenn er Xinzhen nach all den Jahren finden würde, womöglich in einer intakten Familie? "Ich würde ihn nicht zwingen, zu uns zurückzukommen", sagt Guo. "Ich will nur wissen, dass es ihm gut geht."


URL:

http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,695858,00.htm