„Ich bin ein gestohlenes Kind“
AUSLANDSADOPTIONEN „Ich bin ein gestohlenes Kind“ VON ANTJE HILDEBRANDT 29. NOVEMBER 2011 CHRISTIAN WEISS/RANDOMHOUSE Hat ihre Adoptionsgeschichte von Indien nach Deutschland aufgeschrieben: Anisha Mörtl Anisha Mörtl war elf Monate alt, als sie zu deutschen Adoptiveltern kam. Jetzt hat sie ihre Autobiographie geschrieben. Sie entlarvt den schönen Schein der Auslandsadoptionen Seite 1 von 2 Vielleicht lag es daran, dass sie nicht dieselbe Sprache sprachen. Dass ausgerechnet in jenem Moment das Handy ihrer leiblichen Mutter klingelte, als sie sie nach neunzehn Jahren das erste Mal wiedersah. Die Begegnung hatte sich Anisha Mörtl anders vorgestellt. Da war sie nun von München ins indische Hyderabad geflogen, um endlich eine Antwort auf die Frage zu finden, woher sie kam und wer die Frau war, der eine katholische Ordenschwester 1991 das einzige Kind geraubt und zur Adoption an ein kinderloses Ehepaar vermittelt hatte: Anisha das bedeutet Morgenröte. Und vor ihr saß eine Fremde. Sie war kleiner als sie und ihre Haut noch eine Spur dunkler. Sie traute sich kaum, ihr in die Augen zu schauen. Sie ging an ihr Handy. Es war der Höhepunkt einer Geschichte, die beinahe unglaublich klingt. Und doch ist sie wahr. Anisha Mörtl hat sie selber erlebt und aufgeschrieben. „Lotostochter. Ich bin ein gestohlenes Kind“. Dieses Buch wirft ein Schlaglicht auf ein Thema, das immer nur dann in den Fokus der Öffentlichkeit rückt, wenn Prominente zwecks Familiengründung in die Dritte Welt reisen und mit einem kakaofarbenen Kind mit großen Augen wieder zurückkommen. Anisha Mörtl machen solche Berichte wütend. Sie sagt, Auslandsadoptionen förderten zwar das Image der Adoptiveltern. Siehe Angelina Jolie. Doch wer frage danach, was mit den Kinder passiere, wenn man sie aus ihrer Familie reiße und sie ihrer Kultur entfremde. Ausgerenkte Wirbel, eine vorübergehende Gesichtslähmung, Depressionen. Das waren in ihrem Fall die Folgen. Und was beinahe noch schwerer wog: Das Gefühl, eine blinde Passagierin in ihrem eigenen Leben zu sein, dominiert von einer Adoptivmutter, die nicht müde wurde, Dankbarkeit einzufordern. Darum, sagt Anisha Mörtl am Telefon, habe sie dieses Buch geschrieben: um den schönen Schein von Auslandsadoptionen zu entlarven. Ein Einzelfall ist ihre Geschichte nämlich nicht. Gertraud Knuth von der „Initiative AdoptionsOpfer“ weiß von 1700 indischen Kindern, die allein in den neunziger Jahren von der staatlich zugelassenen Vermittlungsstelle pro infante nach Deutschland vermittelt wurden - darunter auch ihre eigene Adoptiv-Tochter, Siema. Das Mädchen war zwölf, als sein Vater starb und die Mutter sie in die Obhut von Ordenschwestern der berühmten Mutter Teresa gab - in dem Vertrauen darauf, die Tochter nach einer Woche wieder abholen zu können. Stattdessen wurde Siema mit einer gefälschten Einverständniserklärung ihrer Mutter nach Deutschland verfrachtet und über die staatlich lizensierte Vermittlungsstelle pro infante zur Adoption freigegeben. Siema hatte Glück, dass sie bei den Knuths in Bayern landete. Neben ihren beiden leiblichen Töchtern hatte die Familie schon zwei Jungs aus Brasilien adoptiert. Sie unterstützte das Mädchen bei seinem Wunsch, zu seiner Familie zurückzukehren. Und sie stellte Nachforschungen über pro infante an. So flog der Kinderhandel auf. Lesen Sie auf der nächsten Seite wie die Knuths reagierten... Die Knuths verklagten pro infante auf Schadensersatz - ohne Erfolg. Das Gericht bestätigte zwar, dass die Voraussetzungen für die Adoption nicht ordnungsgemäß waren. Es befand jedoch, dass es nicht die Aufgabe deutscher Vermittler sei, das indische Verfahren zu prüfen. Im Klartext: Für die Fehler der Ordensschwestern ist hierzulande niemand haftbar. So war es auch im Fall Anisha. Formell hatten ihre Adoptiv-Eltern alles richtig gemacht. Sie hatten sich beim Jugendamt beworben und darauf vertraut, dass die von der Behörde eingeschaltete Vermittlungsstelle legal handelte. Sie waren 1991 selber nach Hyderabad gereist, um alle erforderlichen Dokumente zu besorgen und ihr Kind nach Hause zu holen. Dass die Papiere gefälscht waren, wollen sie erst erfahren haben, als Anisha schon von zu Hause ausgezogen war, nach jahrelangen Querelen mit ihrer Adoptivmutter. Es war Gertraud Knuth, die Anisha Mörtl den Kontakt zu einer indischen Menschenrechtlerin vermittelte. Die spürte ihre leibliche Mutter auf. Fatima. Eine Angehörige der Kaste der Unberührbaren. Eine Frau ohne Familiennamen. Ihr Mann hatte sie während der Schwangerschaft verlassen. Sie war bei Anishas Geburt sterilisiert worden - ohne ihr Einverständnis. Das einzige Kind nahmen ihr die Ordensschwestern fort. Sie sprachen der Muslima die Fähigkeit ab, die Tochter großzuziehen. Bei ihrem Besuch in Hyderabad konnte sich Anisha jedoch vom Gegenteil überzeugen. Fatima hatte ein zweites Mal geheiratet. Sie lebte in einfachen, aber intakten Verhältnissen. Ihre Familie nahm Anisha mit einer Herzlichkeit auf, die sie, die Tochter überwältigte. Eine Woche verbrachte sie in Hyderabad. Viel zu wenig, um sich der Frau anzunähern, die ihr das Leben geschenkt hatte. Dennoch, sagt die 21-Jährige, sei die Reise ein wichtiger Schritt gewesen. Die Begegnung mit ihrer Mutter fiel nicht so aus, wie sie es sich erträumt hatte. Doch sie hat Fatima versprochen, nach Indien zurückzukommen und ihre Sprache zu lernen, sobald sie ihr Studium beendet hat. Schließlich, sagt sie, habe sie ihr geholfen, ihre innere Zerrissenheit zu überwinden. „Die Reise zu ihr hat mich auf den Boden gebracht.“ Beim Kinderhilfswerk Terre des hommes kennt man Anisha Mörtl nicht. Es heißt dort, um Fälle wie den ihren zu verhindern, habe der Bundesrat 2001 die Haager Konvention über Internationale Adaptionen ratifiziert. Es schreibt zum Beispiel vor, dass Kinder nur dann adoptiert werden dürfen, wenn im eigenen Herkunftsland keine Verwandten oder Pflegefamilien gefunden wurde. Doch dass diese Regelung Kindern aus Katastrophengebieten und der Dritten Welt keinen 100prozentigen Schutz gewährt, darüber macht man sich keine Illusionen. Kinderschützer vermuten, dass in der BRD jede dritte internationale Adoption ohnehin ohne staatliche Begleitung erfolgt - eine Lücke im deutschen Adoptionsrecht macht es möglich. Die Folge: Zuverlässige Zahlen kann die Bundeszentralstelle für Auslandsadoptionen in Bonn nicht nennen. Man erfährt lediglich, dass 2010 382 Kinder mit staatlicher Hilfe ins Inland geholt wurden, die nicht mit ihren Eltern verwandt waren. Von Fällen, in denen sie mit gefälschten Papieren eingereist sind, will man in der Behörde nichts wissen. Dabei ist es vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis auch dort Menschen anklopfen, die dem Staat vorwerfen, er habe stillschweigend ihre Verschleppung sanktioniert. Das Krankenhaus in Hyderabad, in das Anisha Mörtl 1990 verschleppt wurde, rangiert jetzt als Kinderheim. Auf dem Schild steht „Tender Loving Care Home“. Anisha Mörtl, Lotostochter, Ich bin ein gestohlenes Kind, Südwest-Verlag, 17,99 Euro.
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